Der rot-weiße Karren
von Dr. Martina Weinland
 

Der "rot-weiße Karren" (1988) von Hella De Santarossa oder
Das Gefühl für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Als Hella De Santarossa 1988 ihren der Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gewidmeten Bilderzyklus in 29.00 Metern Länge und 1.50 Metern Breite schuf, konnte die Partei auf ihre 125jährige Geschichte zurückblicken. Doch was war ihr wirklicher Inhalt und konnte damit Gegenstand der künstlerischen Beschäftigung sein?

Eine diffuse Entstehungshistorie, die ihren Anfang letztlich im Scheitern der 1848er Revolution genommen hatte, die durch den starken Widerpart der konservativen Politik Otto von Bismarcks ihre gesunde Oppositionshaltung gewinnen mußte, die unter Führung August Bebels ihre ersten Feuertaufen bestehen mußte, die durch das engagierte Eintreten von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg die ersten vagen Schritte in Richtung sozialdemokratischer Richtlinien unternehmen konnte, die unter einem Gustav Stresemann zu erstem politischen Profil erwuchs und unter den Nachkriegsjahren in die ewige Oppositionsrolle gedrängt wirkte. Spätestens unter der Ägide von Bundeskanzler Willy Brandt schien die Partei endlich wieder zu erwachen und in der Lage, Profil zu zeigen. Aktionen mit und durch Künstler, wie 1969 im Wahlkampf mit Günther Grass, bedeuteten einen wahren Wechsel, der in dem spektakulären Kniefall Brandts in Warschau seinen politisch-dramaturgischen Höhepunkt erfuhr. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hatte, so schien es, das Ohr und den Draht zu den zeitgenössischen Intellektuellen, und hatte sich ihre Sichtweise im Positiven angeeignet. Ganz anders verlief die Entwicklung der Partei im Osten Deutschlands, deren Grundsätze gegen ihren Einspruch in die staatlich dominierende SED integriert worden waren. Eine selbstbestimmte Politik, oppositionell oder anderswie geartet, war nicht opportun.

Dies alles war die Ausgangsbasis, in der 1988 zum 125jährigen Bestehen der SPD die künstlerische "Nacherzählung" der sozialdemokratischen Geschichte in Auftrag gegeben wurde. Besondererweise erhielt eine Frau die Anforderung, zu der in sich heterogen verlaufenden Geschichte Stellung zu nehmen und darüber hinaus in "Wettstreit" zu den arrivierten Künstlern der damaligen DDR wie bsp. Werner Tübke (Panorama in der Gedenkstätte Frankenhausen) zu treten. Es galt, der damaligen DDR-Vereinnahmung ein liberal und sozialdemokratisches Anliegen entgegen zu stellen. Beides fand in der - ursprünglich für die Glasgestaltung Ausgebildeten, aber seit ihrem Studium bei Karl-Heinz Hödicke zu seiner Gruppierung der "Neuen Wilden" Zählenden - Künstlerin Hella De Santarossa eine kompetente Gegendarstellerin. Völlig konträr zur DDR-verordneten Staatskunst "nachempfand" sie die Wirrnisse, die bei der Gründung der sozialdemokratischen Partei Ausschlag gaben ebenso wie die Erfolge, die die Partei in der Bundesrepublik berechtigterweise erfuhr. Indem sie zum Hauptmotiv ihres kolossalen Frieses den "rot-weißen Karren" deklarierte, knüpfte sie unmittelbar analog an Brechts Wagen seiner "Mutter Courage"an, die durch ihr Schicksal nicht prägnanter für die Wähler der sozialdemokratischen Partei und damit für ihr Fortbestehen in die Pflicht genommen werden konnte. Rings um diesen "rot-weißen Karren" ereignen sich die Kriegshistorien des 20. Jahrhunderts, die zugleich Aufstieg und temporären Niedergang der SPD versinnbildlichen. Ein "Parteibild", das so schonungslos Stärken und Schwächen gleichwohl zeigt, ist selten angefertigt worden. Allerdings hat bisher eine Partei auch selten den Mut hierzu aufgebracht, ein solches Werk öffentlich zu zeigen. War es in den Zeiten des "Kalten Krieges" letztlich selbstverständlich, zu einem sublim-kritikvollen Werk der eigenen Geschichte zu stehen, ist es spätestens seit 1990 ein Muß, denn nur so kann die staatstragende Kunst der ehemaligen DDR relativiert und ihr das notwendige Gegengewicht in der historischen Verarbeitung gesetzt werden.
Der "rot-weiße Karren" von Hella De Santarossa entspricht letztlich als Synonym der über 50 Jahren separiert existierenden Wirklichkeit der SPD und kontrapostiert idealerweise die "verschwundenen" 50 Jahre der DDR-Zeit.

Hella De Santarossa hat über ihre parteibezogene Arbeit des "rot-weißen Karren" hinaus in den letzten fünf Jahren vor allem an der Verwirklichung ihrer kosmopolitischen Vorhaben gearbeitet. So entstand seit 1995 der "Blaue Obelisk" (Europa) in Berlin, dem der "Blaue Obelisk" (Afrika) demnächst folgen wird. Bei diesem globalumfassenden Projekt sind insgesamt fünf Obelisken auf den fünf Kontinenten der Erde vorgesehen, um damit einerseits die Minimierung unserer Welt zu verdeutlichen, andererseits die gegenseitige Abhängigkeit der Kulturen untereinander zu manifestieren, in deren Anerkennung der größtmögliche Nutzen für die Weltbevölkerung insgesamt liegt. Mit diesen, nur auf multikultureller Basis zu realisierender Projekten> begibt sich Hella De Santarossa auf ein ureigenes Feld der Sozialdemokraten, das ohne das Prinzip der Gleichheit nicht denkbar wäre. So wie im "rot-weißen Karren" die verschiedenen Epochen tempus-evoziert gemacht werden, sieht das System der miteinander kommunizierenden Obelisken eine ähnliche Zeitverschiebung zwischen den Kontinenten und damit zwischen dem jeweiligen Sozialstatus vor. Doch ist das "Goldene Zeitalter" weder erklärtes Ziel des Obelisken Netzes noch des früher realisierten "rot-weißen Karren". Vielmehr steht die Sichtbarmachung von Prozessen im Vordergrund, die insofern im Fall des "rot-weißen Karren" eine Reinstallation im Willy Brandt-Haus als wichtige Dokumentation zur Geschichte der SPD nach 1945 nahelegt.

Berlin, 20. November 1998